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7. September 2015

„Wo atmen Sie auf?“ – zum Jahr des Aufatmens im Bistum Osnabrück

Die Bremse lösen und loslaufen
Auftanken. Innehalten. Zur Ruhe kommen. Wir alle wissen, wie wichtig das ist. Zum „Jahr des Aufatmens“ erzählen Menschen aus unserem Bistum, wo sie aufatmen können. Der Europaabgeordnete Jens Gieseke joggt dafür am Schloss Clemenswerth in seinem Wohnort Sögel.

Heute Vormittag ist es noch ruhig in Clemenswerth. Nur ein paar Gäste nutzen das schöne Sommerwetter an diesem Freitag und spazieren über die kopfsteingepflasterten Wege. Vorbei an den Pavillons und am Kapuzinerkloster, über den Gänseblümchenrasen bis zum barocken Hauptschloss. Eine Familie macht dort auf den Stufen kurzerhand Pause und überlegt, wie es jetzt weitergehen soll. Vielleicht ein Eis oder eine Cola im nahen Schlosscafé? Da sitzt bis jetzt nur eine Dame und studiert ganz entspannt die Speisekarte.

Laufen macht den Kopf frei
Das Schlosscafé steuert Jens Gieseke (noch) nicht an. Mit dem Rad kommt er flink um die Ecke. Fährt über den Schlossplatz, stellt den Drahtesel ein paar Meter weiter ab, wirft die Sportjacke über den Lenker. Und läuft los. Schnell lässt er die Al-leebäume rechts und links hinter sich, kommt bei den Schlossteichen an und joggt in lockerem Tempo rund um die Inseln. Eine Runde misst zwei Kilometer, an guten Tagen schafft der 44-Jährige vier bis fünf Runden. Beim Joggen gerät er zwar außer Atem aber dadurch zu Atem. Da kann er die Bremse lösen, da kann er den Kopf frei machen. Leider kommt Jens Gieseke viel zu selten zum Laufen, höchstens am Wochenende. Denn seit Juli 2014 sitzt der gebürtige Lathener als CDU-Abgeordneter für die Region Westniedersachsen im Europäischen Parlament. Der eng gestrickte Terminkalender lässt ihm nicht viel Zeit zum Durchatmen. 43 Sitzungswochen stehen im Jahr an: von montags bis donnerstags, 400 Kilometer von seinem Wohnort in Sögel nach Brüssel oder noch mal 200 mehr bis nach Straßburg. „Neulich habe ich das mal in knapp sechs Stunden mit dem Auto geschafft“, erzählt er. Das könnte man auch Tiefflug nennen.Tempo und Zeitdruck bestimmen ohnehin den Tag im Parlament und den drei Fachausschüssen. Ganz oft hetzt er im Laufschritt ohne Pause von einer Sitzung direkt ins Plenum, dann in die Fraktion, dann in einen seiner drei Ausschüsse – gar nicht selten geht das manchmal so bis abends um 23 Uhr. Selbst das Essen zwischendurch wird zur Arbeit. Das Frühstück heißt dann „breakfast-meeting“ und am Mittagstisch wird „natürlich“ über aktuelle Themen beraten. „So komme ich auf ganz entspannte zwölf bis 14 Stunden“, sagt Jens Gieseke lächelnd.

Europa – das ist sein großes Thema
Da mag zwar feine Ironie durchschimmern, aber keine große Klage. Denn der CDU-Mann kennt das Geschäft in Brüssel. Nach dem Jurastudium in Osnabrück, Lausanne und Genf hat der Rechtsanwalt schon von 2001 bis 2005 als parlamentarischer Referent im Europäischen Parlament gearbeitet. Und danach bis Juni 2014 das europäische Verbindungsbüro eines Flughafenverbandes in Brüssel geleitet. Europa – das ist sein großes Thema, mit Leidenschaft und Überzeugung. „Heute ist fast alles europäisch relevant“, sagt er eindringlich. „Europa muss sich vielleicht nicht um jeden Duschkopf sorgen, aber um die großen Herausforderungen müssen wir uns kümmern.“ Und ganz schnell ist man mittendrin in einer angeregten Diskussion mit ihm. Über Griechenland und Großbritannien, über die Flüchtlingsfrage. Da kann er sich richtig festreden – schnell, gesten- und wortreich. Heute geht es aber nicht immer so schnell zu. Geruhsam gehen wir über die Allee zurück zum Schlosscafé. Er bestellt Wasser und Kaffee, dafür muss jetzt Zeit sein. Und wird prompt von einem Passanten erkannt. „Kommst du morgen Nachmittag auch nach Lathen?“, ruft ihm ein befreundeter CDU-Mann quer über den Rasen zu. „Nein, ich muss nach Lingen zum Bezirksvorstand“, ruft Gieseke zurück. An einem Samstag? Selbst am Wochenende drängeln sich bei dem 44-Jährigen die Termine im Kalender, da steht dann Wahlkreisarbeit auf dem Programm. Wieder mit Sitzungen und Gesprächen, aber auch mit Besuchen, Besichtigungen und Benefiz-Veranstaltungen. Und was sagt die Familie dazu? „Die kommt tendenziell zu kurz“, räumt er ein. Eigentlich will er sich zumindest einen Wochenendtag für seine Frau und die drei Kinder ganz freihalten. Denn Lina, Jasper und der kleine Carlo-Alexander vermissen ihren Papa schon oft. Das weiß der Abgeordnete: „Da muss ich noch besser werden.“ Er versucht, die drei abends noch zu sehen und mit ihnen zu beten. Und mit den Ältesten zum Fußballturnier oder zum Handball zu gehen. Wenn er dann auf der Tribüne sitzt und sie kräftig anfeuert, hat das auch etwas von Durchatmen.Wie beim Joggen. Diese gute Stunde rund um die Schlossteiche ist ihm wichtig. Die versucht er sich, einmal am Wochenende zu nehmen. Gieseke wohnt ganz in der Nähe von Clemenswerth, ist mit dem Rad schnell angekommen. Ganz allein läuft er, ganz ohne Musik im Ohr, ganz konzentriert auf den Rhythmus des Atems und seiner Schritte. Was beim Laufen passiert? Entschleunigung trotz Beschleunigung. Der Politiker will gar nicht von Glückshormonen, Botenstoffen oder sonstigen biologischen Prozessen sprechen. Er formuliert das viel einfacher. „Ich komme richtig runter“, sagt er. „Das ist eine positive Erschöpfung“. Und manchmal kommen dann seine Gedanken so gut ins Laufen, dass ihm sogar neue Gedanken für seine Arbeit kommen. Der Kaffee ist auf, der 44-Jährige guckt auf die Uhr. Er muss los. Dieses Mal aber nicht für eine Konferenz oder eine Betriebsbesichtigung. Die Tochter kommt gleich nach Hause. „Ich muss schnell noch was auf den Herd kriegen“, sagt er. Und das ist wirklich wichtig.

Quelle (Foto und Text): Petra Diek-Münchow, Kirchenbote des Bistums Osnabrück